
19.06.2023. Montag Morgen. Nach einer 80 Kilometer kurzen nächtlichen Überfahrt haben wir früh morgens am Cruiseterminal in Tallinn festgemacht. So eine handelsübliche Fähre braucht dafür rund zwei Stunden. Wieviel Zeit sich unser Kapitän genommen hat, kann ich nicht sagen, da wir die Fahrt überwiegend verschlafen haben. Als wir wach werden, haben wir längst angelegt.
Als wir auf unseren Balkon treten, fällt unser Blick auch auf unser Lieblingsschiff vergangener Tage. Viele schöne Erinnerungen verbinden uns mit der AIDAvita und der weltbesten Ocean Bar. So haben wir u.a. am 4. Mai 2018 ihren 16. Geburtstag auf der Seine gefeiert. Nun liegt sie hier, ihrer Fahrgäste beraubt und schon leicht verkommen, und wartet wohl auf ihr trostloses Ende.
Das nächste Bild könnte auch „gestern & heute“ heißen. 2017 und 2018 waren wir jeweils zweimal mit der Vita und 2019 zweimal mit ihrer ein Jahr jüngeren Schwester, der Aura, unterwegs. Viele lustige Abende haben wir mit Gleichgesinnten an der Ocean Bar erlebt. Leider hat dann Corona, aber auch die neue strategische Ausrichtung von AIDA hin zum Massenmarkt, das Ende der beiden kleinen Schiffe besiegelt. Sie werden uns fehlen und mit ihnen auch die uns angenehme Schiffsklasse. Wahrscheinlich sind wir und diejenigen, die so empfinden wie wir, eine aussterbende Spezies und ein so kleiner Markt, dass es sich für die Reedereien nicht mehr lohnt, unsere Wünsche zu bedienen. Mit dem preissensiblen Klientel lässt sich wohl in Masse mehr Geld verdienen.
Kurz vor zehn verlassen wir das Schiff. Heute mal wieder zu viert. Nachdem wir uns durch eine größere Baustelle gekämpft haben, betreten wir durch die „Große Strandpforte“ in unmittelbarer Nähe zur „Dicken Margarethe“ die von einer Stadtmauer umgebene Altstadt von Tallinn. Eine Theorie zur Namensherkunft geht auf die hier stationierte große Kanone namens Margarethe zurück, eine andere meint, dass eine Köchin die Namensgeberin sei. Der mächtige Geschützturm hatte aber auch die Funktion, die von der Ostsee kommenden Feinde zu beeindrucken. Wir jedenfalls sind beeindruckt.
Nachdem wir die Pforte durchschritten haben, sind wir auf der Pikk, die auf deutsch Langstraße heißt und auch wirklich lang ist und als eine der ältesten Straßen aus dem 14. Jahrhundert quer durch die Altstadt von Reval, wie Tallinn auch schon hieß, bis zum Domberg führt. Entlang der Langstraße wurden historische Kaufmannshäuser, wie z.B. die „Drei Schwestern“, und Gildehäuser und das Schwarzhäupterhaus errichtet.
Die im Hafen angelandeten Waren wurden über diese Straße zu den Packhäusern und zum Markt gebracht. Der Rathausplatz oder estnisch „Raekoja plats“ ist bis heute belebtes Zentrum der sogenannten „Unterstadt“.
Das Tallinner Rathaus oder „Tallinna raekoda“ an der heutigen Stelle und in seiner jetzigen Form entstand zwischen 1402 und 1404. Es ist das einzige erhaltene Rathaus im gotischen Stil in Nordeuropa. An der Ostseite befindet sich ein schlanker, achteckiger Turm. Auf der Turmspitze befindet sich seit 1530 die berühmteste Wetterfahne Tallinns, der „Der alte Thomas“. Im 64 m hohen Turm ist eine der ältesten Glocken des Baltikums aufgehängt, die früher als Brandalarm diente.
Hinter dem Rathaus befindet sich im Packhaus am Alten Markt 1 seit 1997 das Restaurant die „Olde Hansa“ mit 300 Plätzen. Die Bekleidung des Personals und auch das Geschirr sind der Hanse-Zeit nachempfunden und es wird nach originalen Rezepten aus dem 14. & 15. Jahrhunderts gekocht und gebraut. Dazu später mehr, denn noch ist die Gaststätte geschlossen.
Zunächst erklimmen wir den Domberg, wo sich die Oberstadt befindet. Bis 1877 war diese eine von der Unterstadt Tallinns getrennte Stadt, zu der es nur wenige Verbindungen gab, die „Patkulsche Treppe von 1903, den Pikk jalg (langer Domberg) und den Lühike jalg (kurzer Domberg), den wir als Aufstieg nutzen. Eine ganz schön lange Treppe. Wenn es uns nicht schon warm wäre, hier würde es uns werden. Am „Kiek in de Kök“ sind wir fast oben angekommen. Seinen Namen erhielt der 1475 erbaute Wachturm, seinerzeit der größte Europas, durch die Geschichte, dass die Soldaten aus den Fenstern in die Küchen der Bürger schauen konnten.
Dann sehen wir die Alexander-Newski-Kathedrale, die zwischen 1895 und 1900 als russisch-orthodoxe Kathedrale erbaut wurde. Während der Unabhängigkeit Estlands sollte die Kathedrale als Symbol der Russiefizierung im Jahre 1924 abgerissen werden. Der Sockel des Gebäudes besteht aus finnischem Granit. Auf den fünf Zwiebeltürmen sind vergoldete Eisenkreuze zu sehen.
Für den Bau eines Schlosses ließ Katharina die Große südliche und östliche Teile der Burg abreißen und einen Barockpalast errichten. Nach Brandschäden wurde anstatt des Konventsgebäudes des Schlosses 1922 ein neuer Bau errichtet, in dem heute das estnische Parlament sitzt.
Beim Umrunden des Doms entdecken wir mehrere Aussichtsplattformen, wie den „Patkuli vaateplats“ und den „Kohtuotsa vaateplats“.
Da es ziemlich warm ist, muss der Flüssigkeitshaushalt dringend reguliert werden. Vor dem Restaurant „Domberg“ finden wir ein Plätzchen. Ich bekomme ein estnisches Pils. Schön kalt und sehr lecker.
Unser Abstieg führt uns über den „Pikk jalg“ (Langer Domberg), dem einzigen gepflasterten Weg von der Revaler Unterstadt auf den Domberg. Entlang der Straße wurde in den Jahren 1454 und 1455 eine Mauer sowie zwei Tortürme errichtet. Abends wurden die Stadttore beider Städte auch jeweils geschlossen. Die enge Straße machte ein Passieren von Fuhrwerken unmöglich und man benötigte schon im 18. Jahrhundert eine Verkehrsregelung durch die unteren und oberen Wachen.
Unser Ziel ist die „Olde Hansa“, wo meine Mitstreiter gern ein mittelalterlich gebrautes Bier probieren möchten.
Hier die Bierkarte: Tume kange Ürdiõlu Dark strong beer with Herbs 0,5l 8,50 € 1l 14,90 €
Tume meeõlu Dark Honey beer 0,5l 7,80 € 1l 14,50 €
Hele kaneeliõlu Light Cinnamon beer 0,5l 7,80 € 1l 14,50 €
Hele ingveriõlu Light Ginger beer 0,5l 7,80 € 1l 14,50 €
So ganz geheuer ist uns die Auswahl nicht. Aber letztlich entscheiden wird für ein leichtes Ingwer Bier. Ich muss feststellen, meine Skepsis ist berechtigt gewesen. Das Pils auf dem Domberg hat deutlich besser geschmeckt. Mit diesem „Bier“ geht’s mir so wie mit Kölsch. Kann ich weit nach gucken und doll nach laufen. Die Toiletten hier sind übrigens auch sehr mittelalterlich.
Nachdem wir das doch sehr touristisch geprägte Lokal verlassen haben, werfen wir noch einen letzten Blick auf den Rathausplatz. Danach geht’s zurück in Richtung Schiff.